Nelson Mandela wäre 100 geworden

Professor Stephan Bierling, Biograf von Nelson Mandela, im Gespräch

Er ist Teil des Weltgewissens“

Mandelas Name steht für Widerstand gegen Rassendiskriminierung, aber auch für Versöhnung

Nelson Mandela ist am 18. Juli 2018 hundert Jahre alt geworden. Stephan Bierling, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Regensburg, hat die erste umfassend recherchierte Biografie aus deutscher Feder vorgelegt: „Mandela, Rebell, Häftling und Präsident“.

Interview: Marc Thill

Professor Bierling, erinnern Sie sich noch, wo Sie am 11. Februar 1990 um 16 Uhr waren, als Mandela freikam?
Oh ja. Es war ein Sonntag, an dem ich als junger Wissenschaftler an meiner Doktorarbeit am Schreibtisch saß und die Nachricht im Radio hörte. Wir waren in diesen Jahren an epochale Ereignisse gewöhnt: die Freilassung von Sacharow einige Jahre zuvor, der Fall der Berliner Mauer. In diese Kategorie gehörte auch die Freilassung von Mandela – für Südafrika und für die gesamt Welt ein unvergessliches Datum.

Was hat Sie zu Mandela geführt?

Wenn man Politikwissenschaft in den Achtzigerjahren studiert hat wie ich, dann ist man automatisch mit der Person Mandela konfrontiert worden, selbst dann, wenn man nicht ein Südafrika-Experte war. Er und sein Land waren regelmäßig in den Zeitungen. Der Durchbruch zu Mandela kam für mich, als ich 1998 als Gastprofessor für drei Monate an die Fort Hare University in Südafrika ging. Dort hatte Mandela studiert, und er hat mich fortan nie mehr losgelassen.

Mandela schreibt in seiner Autobiografie, dass er im Gefängnis große Sorge hatte, er könne unabsichtlich der Außenwelt ein falsches Bild vermitteln, dass man ihn als Heiligen betrachte. Hatten Sie als Biograf nicht auch dieselbe Sorge?

In der Tat. Als Wissenschaftler gibt es für mich allerdings weder Wunder noch Heilige, sondern nur die Realität. Das ist bei Mandela besonders schwierig gewesen, weil er gerade in Europa – etwas weniger in Südafrika – fast schon als ein Übermensch dargestellt wurde. Wir haben mittlerweile aber so viele Dokumente und Zeitzeugenaussagen und auch die von Mandela selbst im Gefängnis geschriebenen Memoiren, die erst 2014 der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, die uns ein sehr differenziertes Bild von Mandela vermitteln. Das heißt nicht, dass ich in meiner Biografie versuchte, seine Rolle im Widerstandskampf, bei den Verhandlungen mit der Apartheidregierung und bei der Versöhnungspolitik zu schmälern. Doch das Bild ist komplexer geworden – ein Mandela, der in den Fünfzigerjahren sehr gewaltbereit, eitel und arrogant auftreten konnte, dann durch die langen Gefängnisjahre reifte und später die Frucht dieses Reifeprozesses umsetzen konnte in den Gesprächen mit der Apartheidregierung. Es gibt auch dunkle Seiten. Vielen, die den ANC unterstützt hatten, hielt Mandela zu lange die Treue, selbst wenn sie Menschenrechte missachteten – Gaddafi oder Castro. Er distanzierte sich zu spät von seiner Frau Winnie, die in den Achtzigerjahren Gewalt predigte und sich mit zwielichtigen Gestalten umgab. Und ein warmherziger Familienmensch war er nie.

War sein Erfolg als Staatsmann nur mäßig?

Nein, das würde ich nicht sagen. Die Verhinderung des Bürgerkrieges und die Versöhnung sind gigantische politische Leistungen. Dafür hat Mandela aber einiges schleifen lassen, so die Tagespolitik, die er seinem Stellvertreter Mbeki übergab. Der hat sich nicht immer als besonders guter Manager erwiesen. Mandela hat auch die Aids-Epidemie nicht in ihrer Dramatik erkannt oder wahrhaben wollen. Erst später in seiner Post-Präsidentschaftsphase hat er sich dem Problem dann intensiv gewidmet.

Zeitzeugen lobten Mandelas Charakterzüge: stolz, würdevoll, scharfer Intellekt, selbstsicheres Auftreten. Wie viel von dem war Mandela angeboren, was hat er sich angeeignet?

Ihm angeboren waren natürlich seine physischen Attribute. Mandela war gut 20 Zentimeter größer als der durchschnittliche Südafrikaner, sportlich, blendend aussehend. Wenn er einen Raum betrat, wusste jeder, das ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Am Königshof, wo er groß geworden ist, hat er einiges gelernt: Würde, Ausstrahlen von Autorität, Dominieren bei Debatten. Seine größte Leistung aber war, dass er den Reifeprozess weg vom gewaltbereiten Revolutionär und hin zu einem Versöhner der Nation vollzogen hat. Das Gefängnis hat er nicht als etwas gesehen, was ihn brechen könnte, sondern als Chance, sich weiter zu entwickeln und die Apartheid an anderem Ort mit anderen Mitteln zu bekämpfen. Mandela hat auf Robben Island Afrikaans gelernt, die Sprache der Unterdrücker, um besser zu verstehen, was die Apartheid-Regierung bewegt. Er besaß einen aufnahmebereiten Charakter und entwickelte Humor, etwas, was der Mandela der Fünfzigerjahre gar nicht hatte. Er machte Witze über sich selbst und brach damit oft das Eis.

Sie schreiben, dass der Weg zum Kommunismus für Mandela unausweichlich war. Dennoch war er mehr Pragmatiker als Ideologe. War das das Entscheidende?

Ja. Er hatte im Grunde nur eine Sache im Kopf, als er in die Jugendliga des ANC eintrat: die Rassenunterdrückung mit allen Mittel zu bekämpfen, zunächst gewaltlos, später dann gewaltbereit. Im Südafrika der Fünfzigerjahre war die einzige organisierte weiße Gruppe, die bereit war, mit dem ANC zusammenzuarbeiten, die kommunistische Partei. Mandela brauchte sie, weil ihre Mitglieder viele Dinge hatten, die man zur Organisation des Widerstandes benötigte – Autos, Telefone, militärische Erfahrung. Die Kommunisten brauchten ihrerseits die Massenbewegung des ANC, um eine kommunistische Revolution in Südafrika durchzuführen. Für Mandela blieb das oberste Prinzip aber immer die Bekämpfung der Apartheid, nicht die Einführung des Kommunismus. Er hat sich, als er auf Robben Island weggesperrt wurde, sehr schnell von der KP losgesagt. Seine Bindung zum Kommunismus hatte bei ihm instrumentellen Charakter. Wenn es ihm half, die Apartheid zu bekämpfen, dann war diese Zusammenarbeit gut, wenn nicht, dann konnte er auf sie verzichten.

Mandela wurde Opfer des Kalten Krieges. War er aber nicht auch ein Gewinner dieses angespannten Ost-West-Verhältnisses?

Das kann man so sehen. Beide Lager in Südafrika haben den Kalten Krieg instrumentalisiert. Die Apartheid-Regierung war in Europa und in den USA nicht beliebt, konnte aber argumentieren, das letzte Bollwerk gegen den Kommunismus im südlichen Afrika zu sein. Davon haben sich Washington und London lange Zeit überzeugen lassen. Der ANC hat sich seinerseits sehr stark an die Sowjetunion angelehnt, weil Moskau bereit war, den Kampf gegen die südafrikanische Regierung mit viel Geld und mit Waffen zu unterstützen. Sowohl der ANC als auch die Apartheid-Regierung haben also vom Kalten Krieg profitiert. Als er zu Ende ging, gab es eine völlig neue Geschäftsgrundlage, und beide Seiten wussten 1988/89, dass sie ihre jeweiligen Unterstützer sehr schnell verlieren würden. Das hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Apartheidregime und ANC auf einen Kompromisskurs eingeschwenkt sind.

Nach den Soweto-Unruhen wurde Nelson Mandela nach zehn Jahren des Vergessens plötzlich wieder wahrgenommen. Zu seinem 60. Geburtstag gratulierte ihm Großbritannien, und Indien verlieh ihm 1979 den Nehru-Preis. Wie kam es dazu? Gab es einen Sinneswandel?

Mitte der Siebziger Jahre war Mandela tatsächlich weitgehend vergessen. Viele junge Oppositionelle betrachteten ihn als einen alten Mann, der auf Robben Island weggesperrt war und keine Relevanz für den Kampf gegen die Apartheid mehr hatte. Das änderte sich mit den Soweto-Unruhen 1976 und der Verschärfung der Auseinandersetzung in Südafrika. Auf einmal entdeckten sowohl die weiße Regierung als auch das internationale Umfeld Mandela als denjenigen, der sich sehr lange um eine friedliche Lösung des Rassenkonflikts bemüht hatte. Eine südafrikanische Zeitung startete eine Free-Mandela-Kampagne, eine britische Band, The Specials, schrieb den Song „Free Mandela“, der schnell in den Charts ganz oben stand. Auf einmal merkte man auch in Südafrika, dass man sich im Kampf gegen die Apartheid um diesen Mandela scharen konnte. Er selbst hat das ganz genau im Gefängnis beobachtet, indem er etwa die Platzierung dieses „Free Mandela“-Songs in den Charts verfolgte. Lange Zeit war Mandela aber auch deshalb unbekannt, weil der ANC keine Einzelperson in den Vordergrund stellen wollte. Nach der kommunistischen Ideologie ging man davon aus, dass die Geschichte ein Kampf von großen Bewegungen ist und nicht von einzelnen Personen. Erst als andere Mandela für sich entdeckten, sprang der ANC noch schnell auf diesen Zug, um sein Aushängeschild nicht zu verlieren.

Wie lässt sich erklären, dass Desmond Tutu bereits 1980 sagte „Wir brauchen Nelson Mandela, weil er mit höchster Wahrscheinlichkeit der erste schwarze Premierminister werden wird“, und es trotzdem noch mehr als zehn Jahre dauerte, bis er freikam?

Es war ein schwieriger Annäherungsprozess. Das Misstrauen auf beiden Seiten, die sich mit Waffengewalt und Attentaten bekämpften, saß unglaublich tief. Außerdem gab es noch andere schwarze Kräfte in Südafrika, die ihr eigenes Spiel trieben und sich zunehmend radikalisierten. Auch viele Weiße, vor allem im Militär und in der Polizei, wollten es auskämpfen. Die Gruppen, die Anfang der Achtzigerjahre auf einen Kompromiss drängten, waren zunächst in der Minderheit und mussten sich langsam in ihren beiden Lagern durchsetzen. Mandela führte noch im Gefängnis vertrauliche Gespräche mit der Regierung, vor allem mit dem Geheimdienstchef. Sie trafen sich 48 Mal über fast zwei Jahre, bis beide Seiten glaubten, dem anderen trauen zu können. Es brauchte Zeit, bis man das angestaute Misstrauen überwunden hatte und zu einer Verhandlungslösung bereit war.

Mandela war als mäßig bekannter Widerstandskämpfer ins Gefängnis gegangen, aber die Haft machte ihn zu einer der berühmtesten Figuren des ausgehenden Jahrhunderts. Bei seiner Befreiung hat man den Ayatollah-Faktor befürchtet, er war aber mehr Pädagoge als Demagoge. Selbst in den dunkelsten Tagen seines Lebens verlor er nicht die Würde. War das der springende Punkt?

Ich glaube Würde, Selbstdisziplin, die Überzeugtheit von der Rechtmäßigkeit der eigenen Sache, aber auch das Zusammensein mit seinen Gefährten waren ganz entscheidend. Mandela kam aus einem königlichen Haus. Deshalb hat er im Gefängnis auch wie ein Patriarch agiert, war sehr würdevoll, hat sich nicht provozieren lassen, weder von den Wärtern noch von den anderen Häftlingen, die oft sehr viel radikaler waren. Er versuchte, in Diskussionen auf andere zuzugehen und hat es oft geschafft, Gegner für sich einzunehmen. Mandela sagte einmal, er könne sich den Luxus des Hasses nicht leisten, er habe Wichtigeres zu tun. Am Ende merkten auch viele Gefängnisaufseher, mit was für einem einzigartigen Führer sie es zu tun hatten.

Mandela war also der Versöhner. Ihm gelang es, Südafrika vor einem Schicksal wie Syrien zu bewahren. Er schaffte das, was andere anderswo nicht geschafft haben, etwa im Nahen Osten. Warum hatte Mandela den Erfolg, den andere nicht hatten?

Beide Seiten haben damals eingesehen, dass ein bewaffneter Kampf das Land zerstören würde. Einige im ANC und in der Regierung wollten diesen Kampf bis zum bitteren Ende austragen. Mandela und De Klerk, der Präsident, unter dem Mandela freikam, wollten das verhindern. Sie waren außergewöhnliche Führungsfiguren, fähig, über den Druck der oft militanten Basis hinweg Entscheidungen für eine friedliche Zukunft zu treffen.

Gab es in der Geschichte ähnliche Personen wie Mandela?

Man muss sehr hoch greifen, um vergleichbare Personen zu finden. Ich denke an George Washington, der die Unabhängigkeit der USA erkämpfte und als erster Präsident die Demokratie etablierte. Ich denke auch an Mahatma Gandhi, der die Kolonialmacht Großbritannien in die Knie zwang und dann Indien in den ersten Monaten der Unabhängigkeit begleitet hat. In dieser Kategorie muss man Mandela verorten. Damit ist er Teil des Weltgewissens geworden.

Was hätte Nelson Mandela zu sagen, würde er heute noch leben, etwa zu den Ängsten vieler vor Migration?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Was Mandela immer sagen würde, ist, dass wir Menschlichkeit beweisen müssen über Rassengrenzen hinweg. Er könnte uns daran erinnern, dass es mehr gibt als die Interessen des eigenen Stammes, der eigenen Klientel, der eigenen Gruppe, der man zugehört, und dass man versuchen muss, sowohl nationale wie internationale Politik von einer humanitären Warte aus zu beurteilen.

Stephan Bierling, „Nelson Mandela, Rebell, Häftling, Präsident“, C.H.Beck Verlag, 416 Seiten, 24,95 Euro.

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